Kritik zum Gondry-Buch | in: 'Schnitt'






"Reiz der Wellpappe" - von Ines Schneider

Während der Lektüre von Markus Altmeyers »Die Filme und Musikvideos von Michel Gondry« stellt sich zunächst der Eindruck ein, die drei Hauptteile ständen etwas verbindungslos nebeneinander. Doch das ist keine Schwäche des Autors. Die einzelnen Kapitel sind konsequent und plausibel aufgebaut und die Verschiedenartigkeit der Bereiche beweist vor allem, wie differenziert Altmeyer die Werke Gondrys betrachtet. Altmeyer setzt sich nicht nur mit den künstlerischen Ausdrucksformen dieses Regisseurs auseinander, sondern hebt auch dessen Geschick hervor, den persönlichen Stil in den Konventionen der Unterhaltungsindustrie unterzubringen, und er stellt Mutmaßungen über die Vorbildung an, die das Publikum seiner Clips und Filme bereits mitbringt.

Im Kapitel »Surrealismus« ordnet Altmeyer die Bildwelten Gondrys in die jüngere Kunstgeschichte ein. Er sieht Parallelen zu den Prinzipien der Surrealisten. Gondry würde vermutlich nicht so weit gehen, wie André Breton mit einem Revolver wahllos in eine Menschenmenge schießen zu wollen, aber er scheint in ähnlicher Weise davon befremdet zu sein, wie in der westlichen Gesellschaft sorgfältig zwischen Realität, (Tag)Traum und Wahn unterschieden wird. Es wurde zu einem Merkmal des Regisseurs, alle drei Ebenen in Szene zu setzen und sich von den linearen Erzählmustern, denen die meisten fiktiven Handlungen sonst folgen, zu lösen. Würde man seine Geschichten lediglich nacherzählen, käme man zu dem Schluß, daß einige Sequenzen keinerlei Beitrag zum Verlauf der Geschichte leisten. Sie gehorchen stattdessen einem von Gondry selbst formulierten Grundsatz: »Zeigen statt Erzählen.«

Unter dem Titel »Pop« behandelt Altmeyer die ökonomischen Bedingungen, unter denen ein Kulturgut einer größeren Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird. Er erläutert, wie kreatives Schaffen zu einem konsumierbaren Artikel wird, indem man Vertrautes gleichzeitig reproduziert und einer leichten Verfremdung unterzieht. Das so entstandene Produkt erscheint nie irritierend unverständlich, aber wirkt als Neuheit faszinierend. Aus Altmeyers Sicht beherrscht Gondry diese Gradwanderung bewundernswert und läßt dem Betrachter dabei sogar noch Raum, seine eigenen Sinnzusammenhänge darin zu finden. In »Psychoanalyse« untersucht Altmeyer, wie weit sich Gondry auf die klassischen Theorien zur Traumdeutung stützt und wie sehr die Lehren Sigmund Freuds Form und Inhalt seiner Filme geprägt haben könnten. Der Autor sieht diesen Einfluß vor allem im 2006 entstandenen The Science of Sleep, in dem ein junger Mann seine Erlebnisse in einer aus Alltagsmaterialien nachgebastelten Traumwelt erneut durchlebt.

Die verschiedenen Herangehensweisen und die klare Sprache machen die Lektüre zu einem Vergnügen für jeden interessierten Zuschauer und jeden kreativ tätigen Menschen. Altmeyers Argumentationsweise wird von geisteswissenschaftlichen Theorien und Begriffen unterstützt, ohne damit überfrachtet zu sein. Zwar nennt er in seinem schmalen Band in erster Linie die bekanntesten und bereits vieldiskutierten Vertreter einer bestimmten Tendenz (zu Breton und Freud kommen noch Theodor Adorno und John Fiske), doch in der Regel nennt er deren Thesen vor allem deshalb, weil sie als Begründer einer Theorie auch die Begriffe definiert haben, mit deren Hilfe diese Zusammenhänge noch heute diskutiert, erweitert und auch widerlegt werden. Es geht Altmeyer um die Grundströmungen, die unser allgemeines Verständnis von »Kultur« geprägt haben und die uns als Hintergrund dienen, wenn wir ein Kulturgut betrachten, bewerten und in unsere eigene Weltsicht einbauen. Wenn er direkte Reaktionen auf die Videos und Spielfilme Michel Gondrys für seine Untersuchungen heranzieht, stützt er sich auf Kritiken und Artikel aus Zeitschriften und Tageszeitungen. In einer Zeit, in der das wichtigste Werkzeug eines Publizisten die Suchmaschine zu sein scheint, sieht man gerne, wie ein Autor die gesamte Vielfalt der zur Verfügung stehenden Informationsmedien nutzt, um sich über einen aktuellen Künstler zu informieren.

Markus Altmeyer beschäftigt sich nicht nur mit dem visuellen Kosmos eines originellen Filmemachers, er deckt auch die Mechanismen auf, mit deren Hilfe wir darin Bedeutung erkennen oder konstruieren. Künstler wie Michel Gondry kommen uns bei dieser aktiven Tätigkeit entgegen. Die Szenerien aus Wellpappe, Watte und Zellophan und die damit zum Leben erweckten Fantastereien mögen kindlich wirken, doch die Freude am Schneiden, Kleben und Malen, die in einer Welt voller Massenartikeln und Digitalbildern selten aufkommen kann, wirkt ansteckend. Hat man sich mit Hilfe von Markus Altmeyers Buch vor Augen geführt, wie Wissen, persönliche Erinnerungen und Überraschung beim Betrachten von kreativen Schöpfungen ineinandergreifen, dann bemerkt und versteht man auch einen weiteren Schritt der Unterhaltungsindustrie, der möglicherweise von Gondrys Erfolg beeinflußt wurde: In dem Playstation-3-Spiel »Little Big Planet« wird gerade die Stop-Motion-Technik, die der Regisseur liebevoll aufleben läßt, mit unzähligen Pixeln nachgeahmt. »Mm« und »Sony« greifen auf, was wir im Bastelunterricht erlebt, im Kinderfernsehen gesehen und später als Erwachsene im Kino wiederentdeckt haben, und bieten uns in ihrem neuesten Produkt ihre Version von Buntpapier und Filz an. Der Produktionsweg könnte vom Puppentrickfilm kaum weiter entfernt sein, aber das Ergebnis ist reizend.